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Wegbegleitung: Mädchen* mit traumatisierenden Fluchterfahrungen (Projektkonzept)

Hintergrund

Obwohl das Thema Flucht in aller Munde ist, geraten geflüchtete Mädchen und junge Frauen häufig aus dem Blick, sie sind nicht sichtbar.

Sammet 2016

Kinder und Jugendliche machen in ihrem Herkunftsland und auf der oft jahrelangen Flucht traumatisierende Erfahrungen durch Menschenrechtsverletzungen, die ihr bisheriges Selbst- und Weltverständnis erschüttern sowie existenzielle Bedürfnisse nach Schutz und Sicherheit bedrohen [Fußnote 1]. Dabei gibt es Fluchtgründe, die ausschließlich Mädchen* [Fußnote 2] und Frauen* betreffen [Fußnote 3]:  

  • Vergewaltigung
  • Genitalverstümmelung
  • Verfolgung lesbischer und transidentischer Menschen
  • Zwangssterilisation
  • Zwangsjungfräulichkeit
  • Zwangsverheiratung
  • Zwangsver- und entschleierung

Ihre Fluchtwege „sind in starkem Maße von Todesgefahr, sexueller Bedrohung und Gewalt, Angst, Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnissen durchzogen. Nicht selten werden sie Opfer von Menschenhandel, Arbeitsausbeutung und Zwangsprostitution.[Fußnote 4] Begleitet werden die Mädchen* und Frauen* von Gefühlen intensiver Angst, Hilflosigkeit, Kontrollverlust und Ausgeliefert-Sein [Fußnote 5]. Die Folgen dieser schrecklichen Erlebnisse sind nachhaltig und langwierig [Fußnote 6] – dabei richten Mädchen* und junge Frauen* ihre unterdrückte Wut und den erfahrenen Schmerz oft gegen sich selbst [Fußnote 7]. Neben einer stark verringerten Selbstwirksamkeitserwartung zeigen sich [Fußnote 8]:

  • Unerwünschtes Wiedererleben
    • Albträume
    • Flashbacks
    • Wiederinszenierungen
  • Vermeidungsverhalten
    • Vermeidung von Erinnerungsauslösern
    • Sozialer Rückzug und Kontaktvermeidung
    • Trennungsängste
    • Eingeschränkte Spielfähigkeit
    • Regression
    • Vermeidung von Ruhephasen
    • Abflachung der allgemeinen Reaktionsfähigkeit
  • Erhöhte Erregbarkeit
    • Schlafstörungen
    • körperliche Unruhe
    • Konzentrationsschwierigkeiten
    • Wut und (Auto)Aggressivität
    • Ängste
    • Schreckhaftigkeit

Mädchen* und junge Frauen*, die solche Erfahrungen machen mussten, benötigen eigene Räume im Sinne von Frei-, Schutz- und Entwicklungsräumen zur Identitätsbildung und zur Selbstermächtigung [Fußnote 9].

Bisher wird der spezifischen Situation von geflüchteten Mädchen und jungen Frauen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das gilt auch für die Kinder- und Jugendhilfe.

Jaques 2015

Methodischer Zugang

Das Projekt greift die besondere Anziehungskraft [Fußnote 10], die Pferde auf Mädchen_ und junge Frauen_ ausüben, auf: Als methodischer Zugang wurden die Heilpädagogische und therapeutische Förderung mit dem Pferd (HTFP, früher Heilpädagogisches Voltigieren), die ganzheitlich – auf emotionaler, sozialer, körperlicher und kognitiver Ebene – unterstützt, sowie Aspekte der Traumapädagogik, die auf die Schaffung eines sicheren Ortes abzielt, gewählt [Fußnote 11]. Die Durchführung des Projekts orientiert sich außerdem an den Grundsätzen feministischer Mädchen_arbeit [Fußnote 12]:

  • initiiert Bewusstseinsprozesse
  • ist parteilich
  • ist Mädchen*- und Frauen*identifiziert
  • fördert Vielfalt und Integration
  • schafft einen geschlechterspezifischen Rahmen
  • fördert Selbst- und Mitbestimmun der Mädchen* und jungen Frauen*
  • ermutigt zu selbstbestimmten und unkonventionellen Lebensentwürfen
  • bedient sich mädchen*gerechter Methoden
  • macht Mädchen_ und junge Frauen_ in der Gesellschaft als wertvolle Persönlichkeiten sichtbar
  • setzt an den Stärken und Ressourcen der Mädchen* an
  • fordert von Männern* initiierte und geleitete Jungen*arbeit unter geschlechterdemokratischen Gesichtspunkten

Projektziele

Das Projekt lässt Mädchen* und junge Frauen*_ mit solchen traumatisierenden Erlebnissen ein Stück Normalität im Chaos erfahren – die Arbeit mit dem Pferd ermöglicht es ihnen, die Schrecken der Flucht und ihren schwierigen Alltag zumindest für kurze Zeit hinter sich zu lassen. Durch das Ansetzen an den Stärken und Ressourcen der Teilnehmer*innen wird eine Voraussetzung für die Aufarbeitung der erlebten Erfahrungen sowie den Umgang mit ihren Folgen geschaffen wird [Fußnote 13]. Dabei basiert das Projekt auf dem Schaffen eines tatsächlich (Schutz vor Übergriffen) und emotional sicheren Raumes (z.B. Prinzip des „Stop“-sagen-Könnens) [Fußnote 14].

  • Die Steigerung des Selbstvertrauens durch schrittweises Überwinden von Ängsten ist entscheidend für den Umgang mit der Traumatisierung [Fußnote 15]. z.B. Verständnis von Angst als Schutz und als Voraussetzung für einen Entwicklungsschritt [Fußnote 16]
  • Die Entwicklung eines positiven Selbstbildes wird durch experimentieren und sich ausprobieren sowie dem Schöpfen von Identität aus Gemeinschaft erreicht [Fußnote 17]. z.B. Erproben von Bewegungsmöglichkeiten [Fußnote 18]
  • Die Stabilisierung des Selbstwertes wird durch eine Steigerung der Impulskontrolle und dem Abbau von (auto)aggressivem Verhalten ermöglicht [Fußnote 19]. z.B. Abbau psychischer und physischer Anspannungszustände
  • Die Steigerung der Stressbewältigungskompetenz wird durch Entspannungs- und Aktivierungsübungen erreicht [Fußnote 20]. z.B. Erleben von Körperkontakt, ohne Grenzüberschreitungen befürchten zu müssen
  • Die Erhöhung der Sprachfreude und die Verbesserung der sprachlichen Fähigkeiten durch die Möglichkeit Sprachschwierigkeiten für eine Weile vergessen zu können [Fußnote 21]. z.B. Kommunikation mit Pferden über Körpersprache
  • Die Erhöhung der Beziehungsfähigkeit wird durch Interaktions- und Kommunikationsspiele sowie Beziehungsangebote ermöglicht [Fußnote 22]. z.B. Verlässlichkeit in der Beziehung zu den Teilnehmer*innen anstreben[Fußnote 23]
  • Die bisher genannten Vorgehensweisen tragen insgesamt zu einer Steigerung der   Selbstwirksamkeitserwartung bei, die zusätzlich durch Partizipationsmöglichkeiten erhöht wird – einem enorm wichtigen Bestandteil der Traumapädagogik [Fußnote 24]. z.B. gemeinsame Absprache über die Gestaltung der Einheiten sowie die Einbindung der Teilnehmer*innen in deren Vorbereitung und Umsetzung
  • Die (unbewusste) Übertragung der im Rahmen des Projekts gemachten Erfahrungen in den Alltag bzw. auf andere Lebensbereiche durch die Aktivierung des Heilungspotentials, das im Umgang mit Pferden steckt [Fußnote 25]. z.B. Steigerung der Konzentrationsdauer und -intensität

Warum eine Förderung mit dem Pferd?

Gründe, die für den Einsatz des Pferdes als Partner_in in der Arbeit mit Mädchen* und jungen Frauen* mit traumatisierenden Fluchterfahrungen sprechen, sind:

  • keine Konsequenz, die auf eine bestehende Auffälligkeit zurückzuführen ist (Pferdesport)
  • hohe Anziehungs- und Motivationskraft (Einstieg, Durchhaltevermögen) [Fußnote 26]
  • unvoreingenommene Akzeptanz (Beurteilungsfreiheit) [Fußnote 27]
  • Erleben und Einfluss nehmen auf Macht bzw. Ohnmacht (Handlungsmacht) [Fußnote 28]
  • Verbesserung des Bezugs zum eigenen Körper (Körperarbeit) [Fußnote 29]
  • Reiten als Frage der Ehre in vielen Gegenden der Welt (Status) [Fußnote 30]
  • Instinktives Zurücknehmen und Wahrnehmung Bedürftigkeit (doppelte Schutzhaltung) [Fußnote 31]
  • Vordringen an sonst tendenziell geschlossen und abgeschirmte Räume (Reitstall) [Fußnote 32]

Zielgruppe

Das Projekt richtet sich an Mädchen* und junge Frauen* mit traumatisierenden Fluchterfahrungen im Alter zwischen vier und 18 Jahren, die (bzw. ihre Erziehungsberechtigten) Leistungen aus der Wiener Grundversorgung beziehen [Fußnote 33]. Die Erreichbarkeit der Zielgruppe soll durch Kooperationen mit etablierten Wiener Einrichtungen wie beispielsweise dem Diakonie Flüchtlingsdienst gesichert werden [Fußnote 34].

Umsetzung

In Österreich konnte nach entsprechender Recherche lediglich ein ähnliches Projekt gefunden werden, welches im Jahr 2010 in Tirol mit einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen durchgeführt wurde [Fußnote 35].

Im Hinblick auf ein kontinuierliches und stabiles Beziehungs­angebot sowie die Nachhaltigkeit des Projekts ist die Umsetzung über je zwei Monate geplant. Dabei sollen sechs der Zielgruppe zugehörigen Mädchen* und junge Frauen* im wöchentlichen Gruppensetting [Fußnote 36] zu je 60 Minuten (insgesamt acht Einheiten). Im Projektzeitraum von Anfang Februar bis Ende August 2019 können in diesem Rahmen 36 Mädchen* und junge Frauen* erreicht werden.

Das Projekt wird im Reit- und Therapiezentrum Donaustadt (Eßlinger Hauptstraße 192, 1220 Wien) umgesetzt. Die Wahl des Veranstaltungsortes entschied sich aufgrund folgender Vorteile:

  • verlässliche, gut ausgebildete und ausgeglichene Therapiepferde
  • ein barrierefrei zugängliches Gelände und eine elektronische Rampe als Aufstiegshilfe
  • die gute Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel
  • die Möglichkeit bei Schlechtwetter die Reithalle zu nutzen
  • ein weitläufiges Gelände, das kleine Ausritte ermöglicht

Fußnoten

[1] vgl. Akademie für Politische Bildung 2018; Unicef 2017:1; UNO-Flüchtlingshilfe 2018

[2] Mit Mädchen* und Frauen* sind all jene gemeint, die sich dieser Gruppe zugehörig fühlen.

[3] vgl. BAG Mädchenpolitik 2015:1

[4] BAG Mädchenpolitik 2015:1

[5] vgl. Mayr-Mauhart 2011:26; Terr 1995, Osofsky/Scheeringer 1997, Schore 2001 zit. in Ziegenhain 2016:13; American Psychiatric Association 1994/2014 zit. in Ziegenhain 2016:12; Scheeringa/Gaensbauer 2000 zit. in Ziegenain 2016:12-13

[6] vgl. Aktion Deutschland hilft 2018; Unicef 2017:1; UNO-Flüchtlingshilfe 2018; Insgesamt ist die Zahl der psychischen Erkrankungen erhöht (vgl. Gavranidou et al. 2008, Fazel et al. 2005, Ruf et al 2008/2014 zit. in Ziegenhain 2016:9).

[7] vgl. Schadowski 2017; Ostbomk-Fischer 2008:11

[8] vgl. Mayr-Mauhart 2011:26; Wintsch 2018:54-56

[9] vgl. Özdemir 2016

[10] vgl. Schleehauf 2010:21-29

[11] vgl. Mayr-Mauhart 2011:26

[12] vgl. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen 2003:95; BAG Mädchenpolitik 2015:3; Treu 2010:1-2

[13] Die professionelle Aufarbeitung der traumatisierenden Fluchterfahrungen selbst ist kein Ziel des Projekts.

[14] vgl. Dabic 2011; TheraKids 2015; Ellerbrock/Petzold 2014:10-12; Lang et al. 2013 zit. in Ziegenhain 2016:41; vgl. Hölscher-Regener 2016:275

[15] vgl. Miller 2016; Dabic 2011; Wintsch 2018:27

[16] vgl. Hölscher-Regener 2016:276

[17] vgl. Dabic 2011; Ellerbrock/Petzold 2014:10; Wintsch 2018:9

[18] vgl. Wintsch 2018:22-23

[19] vgl. ebd. 2018:27-30, 80

[20] vgl. Dabic 2011; TheraKids 2015; Ellerbrock/Petzold 2014:10; Wintsch 2018:9

[21] vgl. Dabic 2011; Wintsch 2018:27-30, 80

[22] vgl. Ellerbrock/Petzold 2014:10; Wintsch 2018:9

[23] vgl. Hölscher-Regener 2016:279

[24] vgl. Mayr-Mauhart 2011:26; Wintsch 2018:9,80

[25] vgl. Dabic 2011

[26] vgl. Miller 2016

[27] vgl. Hölscher-Regener 2016:279

[28] vgl. ebd. 2016:269ff

[29] vgl. Hölscher-Regener 2016:268

[30] vgl. Dabic 2011

[31] vgl. ebd.

[32] vgl. ebd.

[33] Die Tabelle mit einem Vergleich der Menschen in der Wiener Grundversorgung Juni 2018 – September 2017 mit besonderem Fokus auf Mädchen* und junge Frauen* findet sich in der PDF-Datei.

[34] Angedacht, es gab jedoch bereits eine ähnliche Kooperation mit der Einrichtung.

[35] vgl. Baldeo/Schlichtmeier 2010

[36] Diese Form der Durchführung wurde aufgrund folgender Vorteile: ähnliche Erfahrungen der Teilnehmer*innen, Unterstützung durch Gleichaltrige, Reduzierung des Stigmatisierungseffekts, Normalisierungseffekt, kulturelle Aspekte (vgl. Wintsch 2018:7).

Literatur- und Quellen

Die Literatur- und Quellenangaben finden sich in der PDF-Datei.